Ein Brief an… Eltern, die ihre Kinder nicht Kinder sein lassen

Liebe Eltern,

ich schreibe heute denjenigen unter euch, die ihre Kinder nicht Kinder sein lassen. Die ihren Kindern die Kindheit wegnehmen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Die nicht mal im Ansatz zu verstehen, was sie ihren Kindern angetan haben, wenn sie vor den Scherben ihrer Vergangenheit stehen und auch ihre Gegenwart plötzlich bedrohlich knirscht.

Ich rede hier nicht von grausamen körperlichen Gewalttaten, von denen man kopfschüttelnd in den Nachrichten hört. Ich rede nicht von unvorstellbaren oder außergewöhnlichen Vorkommnissen. Sondern von Vorkommnissen, wie sie tagtäglich in Tausenden Familien passieren.

Ich rede von euch, lieben Eltern, die ihr euren Kindern alle Bürden des Erwachsenenlebens auf die Schultern ladet, weil ihr mit ihnen nicht umgehen könnt. Weil ihr Schiss habt. Weil ihr überfordert seid. Weil ihr selbst nie gelernt habt, diese Bürden selbst zu tragen.

Für euch an dieser Stelle also ein kleiner Tipp:

Ihr habt keine Freunde in der Erwachsenenwelt? Macht nicht euer Kind zu eurem besten Freund.

Ihr habt Probleme in eurer Partnerschaft? Macht nicht euer Kind zu eurem Berater.

Ihr wollt eure Ehe beenden? Macht nicht euer Kind zu eurem Machtinstrument.

Ihr habt Probleme mit eurer Gesundheit? Macht nicht euer Kind zu eurem Therapeuten.

Ihr habt unerfüllte Wünsche? Macht nicht euer Kind zum Mittel, diese Wünsche auszuleben.

Ihr habt Gesprächsbedarf? Macht nicht euer Kind zu eurem Zuhörer.

Ob ihr wollt oder nicht: Ihr müsst stark sein

Euer Kind ist nicht eure Puppe. Foto: M.Denecke
Euer Kind ist nicht eure Puppe.
Foto: M.Denecke

Euer Kind hat nicht darum gebeten, euer Kind zu werden. Ihr habt es gezeugt und in die Welt gesetzt. Ob ihr wollt oder nicht: Das bedeutet, dass ihr Verantwortung für euer Kind übernehmen müsst. Es bedeutet nicht nur, dass ihr für ein Dach über dem Kopf, Kleidung, Nahrung und Schulbildung sorgen müsst. Es bedeutet, dass ihr verdammt stark sein müsst – weil ihr erwachsen sein müsst.

Also macht euch bitte klar:

Euer Kind ist nicht euer Haustier. Nicht euer Spielgefährte. Nicht euer Accessoire. Nicht euer Kleiderständer. Nicht eure Modellierform. Nicht euer Diener. Nicht euer bester Freund. Nicht für euch verantwortlich.

Ihr seid für euer Kind verantwortlich. Denn: Es ist euch ausgeliefert. Wer das ausnutzt, wissentlich oder unwissentlich, macht es klein. Macht es alt – und das im Alter von sechs, zehn oder 14 Jahren. Macht es stumm. Lässt es innerlich verkümmern. Weil es die Verantwortung, die ihr nicht tragen wollt, auf sich nehmen wird.

Es wird die Schuld für eure Scheidung auf sich nehmen.

Es wird den Arzt für euch rufen, wenn ihr zu vollgedröhnt seid.

Es wird eure Streits schlichten wollen.

Es wird euch heilen wollen, wenn ihr mitten in der Depression seid.

Es wird sich vollstopfen mit eurem seelischen Fett, damit ihr es leichter habt.

Es wird das machen, was ihr verlangt, weil es euch liebt.

Ihr seid die Erwachsenen – verhaltet euch auch so

Kinder wie diese gibt es unzählige. Sie sind schwer zu erkennen, denn sie sind witzig, charmant, fleißig, klug, lieb. Schwäche (oder vermeintliche Schwäche) würden sie niemals zeigen, damit niemand merkt, dass sie auch mal Hilfe brauchen könnten. Sie passen sich an, um zu überleben. Bauen sich Festungen, um noch mehr aushalten zu können.

Sie wissen nicht, wer sie selbst sind oder wer sie sein könnten. Woher auch? Sie mussten immer die Starken, die Vernünftigen sein. Sie konnten ihren Platz in der Welt nicht finden, denn sie durften sich nie ausprobieren, nie rebellieren, nie wild sein. Euretwegen.

Sie sind eure Marionetten, weil ihr sie dazu gemacht habt.

Aber wenn ihr Puppen haben wollt, dann setzt keine Kinder in die Welt. Euch, lieben Eltern, schreie ich daher ins Gesicht: Ihr seid die Erwachsenen – verhaltet euch auch so!

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